(Der
folgende Text geht aus von einem 7-seitigen Manuskript aus dem Sommer
1980. Damals sammelte Thomas Schmid, Mitherausgeber der im Verlag
Klaus Wagenbach in Berlin seit Ende 1979 vierteljährlich erschienenen
Zeitschrift Der Freibeuter, Beiträge zu einer Rubrik
'Blick zurück nach vorn'. Der doppelte Blick galt in der Regel einem
Text, der vorgestellt und perspektivisch behandelt wurde. Begonnen
hatte die Rubrik mit drei Texten zu Auschwitz, mit Paul Celans Todesfuge,
Alexander Kluges Liebesversuch und Peter Weiss' Meine Ortschaft'.
Dazu schrieben Klaus Wagenbach, Leo Finndegen, Lothar Baier. Später
kommentierten u.a. Barbara Sichtermann und Peter Brückner einen
Text aus Theodor Adornos Minima Moralia, Uwe Wesel einen solchen
von Thomas Hobbes oder Christoph Meckel schrieb bilderbegleitend
in Abwandlung der vorgegebenen Form 'Wissen Sie wie Caravaggio gestorben
ist'. Werner Vogt kommentierte einen Offenen Brief vom Kindbettfieber-Ignaz-Semmelweis
und Wilfried Gottschalch schrieb - in Heft 18, Ende 1983 - zu einem
Bericht Bertrand Russels von einem Besuch im Mai 1920 in Moskau,
den eine neue Kafka-Edition zu Tage gefördert hatte, weil Franz
Kafka ihn in einer Prager Zeitung gelesen und in einem Brief kommentiert
hatte. Der Herausforderung einer solchen 'Umgebung' war ich, waren
meine Texte nicht gewachsen. Ein Versuch (September 1980) zu einem
Aufsatz Boris Gessens von 1931 geriet zwar ungenießbar (da gingen
allerhand Ansprüche beim Schreiben buchstäblich ins Leere), aber
die Wochen intensiver Lektüre und russischer wie deutscher Sprachaneignung
in der Osteuropa-Abteilung der Preußischen Staatsbibliothek formten
das Interesse für russische (Wissenschafts-)Geschichte. Hier
also die Wiederaufnahme der Arbeit am Text von damals (mit Korrekturen
und Zusätzen aufgrund neuer Arbeiten zu Gessen (G. Gorelik))).
Es
sei vorausgeschickt, daß Boris Gessen sich ebenso wie der Autor
seiner Quelle, Eduard Bernstein, über Overton täuschten. Der nämlich
verbreitete nur sehr bedingten Materialismus, eher nämlich gar keinen,
sondern, wie alle 'soul-sleepers'-Seelenschläfer, daß die Seele
mit dem Körper stirbt (Form von Materie nicht zu trennen ist) um
umso kräftiger mit diesem wiederaufzuerstehen. Auch die Toleranz
des 'Druckers vom Boulevard der Toleranz' war gar keine. Die Achtung,
die er für Anhänger aller Schattierungen christlichen Glaubens forderte,
ließ er für Juden um so mehr vermissen (s. Arbeiten von H.H. Brailsford).
Auf einem anderen Blatt steht, welche Gedanken sich mit der 'revisionistischen'
Quelle Gessens, mit der Rezeption von Bernsteins Schrift durch Gessen,
verbinden lassen.
Blick
zurück nach vorn: Boris Gessen zitiert Richard Overton
"Die englische
Revolution gab der Entwicklung der Produktivkräfte einen mächtigen
Auftrieb. Es entstand die Notwendigkeit, nicht nur isolierte Probleme
empirisch zu lösen, sondern in einem Überblick eine stabile theoretische
Basis zu schaffen und die Lösung physikalischer Probleme, die
infolge der Entwicklung der Technik anstanden, mit allgemeinen
Methoden anzugehen. Und weil der hauptsächliche Problemkomplex
in der Mechanik lag, lief ein enzyklopädischer Überblick über
die Physik auf den Entwurf einer vereinheitlichenden Struktur
der theoretischen Mechanik hinaus. Die sollte die Lösungsmethoden
für die Himmelmechanik ebenso liefern, wie für die irdischen Aufgaben...
Richard
Overton schrieb nicht viel. Er vertauschte die Feder allzu oft
mit der Waffe und die Philosophie mit der Politik. Seine Abhandlung
"Mans Mortallitie" erschien in erster Auflage 1643 und in zweiter
1655. Ein beeindruckend materialistischer und atheistischer Aufsatz,
dessen Verbreitung die presbyterianische Kirche umgehend verbot.
Overton kritisierte die Trennung von Körper und Seele, von träger
Masse und aktivem Prinzip, und schrieb: 'Form ist immer die Form
von Materie und Materie ist das Material für Form. Beide können
nicht allein für sich selbst existieren, sondern nur in Einheit
miteinander, und nur in der Vereinigung bilden sie ein Ding. Alles
was geschaffen ist, besteht aus natürlichen Elementen (Wasser,
Feuer, Erde, Luft). Aber alles, was geschaffen wird, ist materiell,
weil, was nicht materiell ist, nicht existiert...'"
* * *
In
gerade diesem Zitat, dachte ich mir, und im Kontext der Schrift,
läge hier ein unausgesprochener Sinn. 521 Silben Text von 1931,
russisch im Original. Der Autor, Boris Michailowitsch Gessen, ein
russischer Revolutionär, der zitierte Autor, Richard Overton, ein
englischer Revolutionär rund 300 Jahre zuvor. Die beiden kurzen
Auszüge aus einem viele Seiten umfassenden Vortrag über "Die sozio-ökonomischen
Wurzeln der 'Principia' Newtons" wirken so ‚holzschnittartig‘ und
- was die englische und überhaupt die Tradition angeht - provokant
wie der ganze Text. Der Autor ‚schnitt’ seine Komposition eben aus
vielerlei Ideen und Fakten der Wissenschafts- und Technikgeschichte,
der politischen, der Kultur- und Wirtschaftsgeschichte. Er tat das
nicht ohne ausführliche Berufung auf Karl Marx, und seither galt
der Text als Pioniertat marxistischer Wissenschaftsgeschichte und
Wissenschaftssoziologie.
Gessens
Versuch berührte sich in jenen Zeiten der Auseinandersetzung
über proletarische Öffentlichkeit und bürokratisch-technokratisch
reduzierte Formen mit Schriften revolutionärer Kollektive, wies
jene Qualität auf, die den 'Faktographen' Sergej Tretjakov an 'Bauchredner
und Thermometer' erinnerte. Man sieht nicht wer spricht, man sieht
nicht die Bewegung der Moleküle, der 'Individuen', auf die das Thermometer
anspricht und schließen läßt. Ist
nicht die Sprache, sind Worte und Sätze nicht ‚Produktionsmittel‘
im Zusammenleben? Schön wärs, wenn elementare Wünsche
und Notwendigkeiten offen zu Wort kämen. 'Herrschaftssprache'
teilt jedoch heimlich und 'subtextuell' so manches mit, wie doch
Herr und Magd sich ungleich treffen, und wie immer die Klassenverhältnisse
zum sprachlichen Ausdruck drängen.
Heute
sind Fach- und allgemeine Sprache, wissenschaftliche und allgemeine
Öffentlichkeit, längst auf Distanz gegangen. Gessen zitierte Overton.
Dem - wie auch dem Zeitgenossen Newton - muß die mechanisch-gesellschaftliche
Doppelsinnigkeit von Lehrsätzen noch vertraut gewesen sein. Motus
est entis in potentia, Bewegung sei Dasein in der Möglichkeit.
Mit der mechanischen stellte sich die allgemeine Frage: die Realität
ein Übergang oder ein Dauerzustand? Für Gessen wohl kaum die physikalisch-philosophische,
aber noch immer eine politische Frage. Fluxus formae oder forma
fluens - Fluß der Formen oder fließende Form? Sprunghafte oder
gleichmäßig fortschreitende Veränderung? Revolution oder Reform,
eine politische Frage, die das heutige Bewußtsein nicht mehr mit
den Erfindungen von Differentialrechnung oder Quantenphysik verbindet.
Gessens ganze Arbeit aber stellte sich der Forderung, die Fach-Öffentlichkeit
der anderen zu nähern, von der sie sich vor 300 Jahren, zögernd
nur, aber deutlich genug, entfernte. Hat diese Forderung seit 1931
etwa an Aktualität verloren? Oder wie soll aus der technischen Entwicklung,
der produktivistischen, eine demokratisch verhandelte entstehen?
1931
waren die Jahre des 'Kriegskommunismus' und der 'Neuen Ökonomischen
Politik' in Moskau fast schon vergessen, die des 'Stalinistischen
Terrors' kündigten sich an. Bald nach der Revolution wäre die 'Proletkult-Bewegung'
gern das Parteiinstrument für die Sozialisierung der Wissenschaft,
für ihre kulturelle Integration geworden. Die Fraktion Lenin hatte
damals diesem 'Kultur von unten' - Programm des alten Rivalen Alexandr
Bogdanow und seiner Freunde eine Absage erteilt und die organisatorischen
Instrumente 'Universität, Fabriklabor und Fabrikschule' vorgezogen,
es hieß:
"die
Sowjetherrschaft wird die Entwicklung der Wissenschaft erleichtern,
aber sie wird an der Orientierung der wissenschaftlichen Arbeit
sehr wenig ändern können, die ist zu allererst von der Produktionsentwicklung
bestimmt".
* * *
1931
tagten in London Wissenschaftshistoriker vieler Länder, die Beiträge
der russischen Teilnehmer erschienen noch während der Tagung als
Buch. 'Science at the cross roads' ('Wissenschaft am Scheideweg')
hieß der Titel. Herausgeber war der Delegationsleiter, der 43-jährige
Nikolai Bucharin, ehedem 'Theoretiker der Partei', auch Herausgeber
der Prawda, seit 29 deutlich entmachtet, im offiziellen Jargon vom
'links-utopischen' Autor seiner 'Geschichte des Materialismus' zur
'Rechten Opposition' geraten. Der umfangreichste und provokanteste
Aufsatz in diesem Buch galt einem nationalen Denkmal im Gastland,
den 'Principia' Isaac Newtons. Der Verfasser, eben Boris Gessen,
war fünf Jahre jünger als Bucharin, hatte in Edinburgh studiert,
war 1917 ein Aktivist der ersten Stunde, hatte dann die Hochschule
der Partei, das 'Institut der Roten Professur' hinter sich gebracht,
zählte zur vorübergehend einflußreichen Gruppe um den Alt-Menschewiken
Abram Deborin und war Institutsdirektor in der Moskauer Universität
an der Seite des bekannten Physikers L. I. Mandelstam. Sein Beitrag
zur Konferenz von 1931 machte im Westen Epoche, weil der Autor die
Zweckfreiheit 'reiner' Wissenschaft ebenso in Frage stellte wie
ihren Ursprung als geniale 'Kopfgeburt'. Unglaublich auch, daß einer
zu behaupten wagte, mit dem Umbau der Gesellschaft werde auch die
Wissenschaft von Grund auf umgestaltet. An die Stelle jener westlichen,
angeblich vom öffentlichen, insgeheim vom Klasseninteresse geleiteten,
würde die tatsächlich öffentliche treten, eine, die tatsächlich
dem Menschheitsinteresse gerecht würde? Wissenschaft am Scheideweg.
* * *
Der
Generalsekretär der KPDSU hatte 1930 den Widerstand gegen die Differenzierung
der Löhne als 'bürgerliche Gleichmacherei' bezeichnet. Forcierte
Industrialisierung - man fragte sich um welchen Preis? Machterhaltung
der Partei - um welchen Preis? Sollten Herrschaft und Unterdrückung
'Produkt historischer Bedingungen', wie es hieß oder
gar 'in bestimmtem Sinn ein Produkt der Arbeitsteilung, also
technisches Faktum' bis auf weiteres noch dauern? Ende 1930
wurden dem Kollektiv um Deborin unter dem Vorwand des 'menschewistischen
Revisionismus' die Anerkennung verweigert. Gessen behielt seine
Stellung.
Die 'Kleine Sowjetenzyklopädie' schrieb 1935:
"Ist
Kommunist..., arbeitete über physikalische Probleme und über Aspekte
des dialektischen Materialismus, dabei sind ihm Fehler unterlaufen,
die er später erkannte... Wurde 1933 zum korrespondierenden Mitglied
der Akademie der Wissenschaften gewählt ... "
Dann
begann die unsägliche Auseinandersetzung zwischen Apparat und
Massen, auch eine Art von Klassenkampf, schlechthin ein wilder Terror.
Die Zahl der Industriearbeiter hatte sich bis 1933 gegenüber 1928
verdoppelt, die Stahlproduktion verdreifacht. 1934 konnte die Zwangs-Kollektivierung
der Landwirtschaft als abgeschlossen gelten. In Anbetracht der Probleme,
vor denen die Verwaltung stand, hatte der Parteitag 'Säuberungen'
als 'höhere Form von Selbstkritik' gebilligt. Das bedeutete Amtsenthebungen,
Gulag, Schauprozesse, Denunziation und Mord. 1936 begann die Stachanov-Kampagne
zur Produktionssteigerung - und förderte spätestens 1938 die
Repression. Im Sommer 1936 wurde Boris Gessen verhaftet, im Dezember
in einem geheimen Militärgerichtsverfahren als 'trotzkistischer
Spion' verurteilt und erschossen. Der Presse und selbst ehemaligen
Kollegen galt er nun als 'Volksfeind'.
*
* *
1968
kam ich zum erstenmal nach Rußland. Wir, ein paar westeuropäische
Physiker, flogen im Sommer mit einer Tonnenladung von Labormaterial
und Apparaten von Genf nach Moskau. In Protvino, 120 Kilometer südlich
der Hauptstadt, nicht weit von den Niederungen der Oka, experimentierten
wir mit damals neuem, nur dort verfügbarem Gerät. Im Jahr darauf
flog eine der heroisch-schweren Antonow 22 Transportmaschinen die
Apparaturen zurück nach Genf. Das Breschnew-Regime brachte seinen
Begriff von Freiheit und Notwendigkeit jedem mit großer Selbstverständlichkeit
zum Ausdruck. Obendrein fiel in jenen August sein gewaltsamer Bruch
mit dem 'Prager Frühling'. Die Gegenwart verlangte nach Geschichte,
nach eben diesem Blick zurück nach vorn. Wir pflegten den Umgang
zwischen West und Ost, der ökonomischen Ungleichheit zum Trotz
einen bisweilen sehr herzlichen. Mir fehlte das präzisere Bewußtsein
von Geschichte, es fehlten Perspektiven, wie sie mit der Erinnerung
an Gessen in den Kopf kommen.
*
* *
Gary Werskey hat in 'The visible College' - das ‚sichtbare Kollegium'
britischer Naturwissenschaftler beschrieben, die sich seinerzeit
von Gessens marxistischer Geschichtsauffassung beeindruckt zeigten.
'A very small minority indeed' - 'eine in der Tat sehr kleine Minderheit',
die um so deutlicher in Erscheinung trat. In der in England immer
schwachen Kommunistischen Partei, mehr jedoch in der 'Association
of Scientific Workers' - 'Vereinigung wissenschaftlicher Arbeiter'-
, der 1919 ins Leben gerufenen ersten Wissenschaftler-'Gewerkschaft',
oder im 'Left Book Club' - 'Links-Buch-Klub', der 1939 57 000 Mitglieder
zählte. Vornehmlich aber mit Aufsätzen in Tageszeitungen oder mit
Buchtiteln wie The Social Function of Science des Embryologen
John Bernal ('Die gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft')
oder mit Science for the people, dem anspruchsvollem Vermittlungsversuch
des Biostatistikers Lancelot Hogben (deutsch: 'Mensch und Wissenschaft').
Das waren begeisterte und begeisternde Versuche zu einer anderen
Öffentlichkeit für Wissenschaft und in den Wissenschaften. Während
wir von solchen Ansätzen und Vorgängern später bei uns (in
Zeiten der Konflikte um Wyhl und Brockdorf) nur träumen konnten
und noch immer können, weil sie 1933 abgebrochen und ins Exil getrieben
wurden, besann sich das Londoner 'Radical Science Journal' ('Zeitschrift
für radikale Wissenschaft') Kollektiv auf jenes ‚sichtbare Kollegium‘
und konnte am Gegenstand der Kritik den Blick nach vorn entwickeln.
Tretjakov
schrieb, als stünde der allgemeinen proletarischen Öffentlichkeit
alsbald nichts mehr im Weg. Er schrieb schon längst 'Als ob'. Hatte
er nicht die Pubklikationen der 'Kommunekunst', 'LEF', 'Novy LEF'
mit versandenden Flüssen verglichen,
"Aber
unsere Arbeit ist keinen Pfifferling wert, wenn wir nicht ins
Meer münden - ins Meer der Massen... Die Massen der Amateurphotographen,
die tausende von Reportern und Arbeiterkorrespondenten sind bei
aller Unbildung und mangelnder Qualifikation potentielle Faktographen"
So
wie die Dinge lagen, waren die Massen für die Faktographie, für
eine 'ebenso literarisierte wie technisierte' Öffentlichkeit, wie
sie dem Autor vorschwebte, ebensowenig zu gewinnen, wie in Zeiten
Lenins für den 'Proletkult'. Literaten seines Schlags produzierten
schlechterdings Utopie, die ihnen um so mehr zur Gefahr wurde, als
sie sich 'multikulturell'- verführerisch darstellte. Die Chancen
für multikulturelle 'Selbstbestimmung' waren abhanden gekommen.
Wie die Literaten nicht ins Meer der Massen mündeten so scheiterten
alle Versuche, die technische und die wissenschaftliche in die allgemeine
Öffentlichkeit überzuführen. So scheiterte auch Gessen. "Sozialismus
gleich Elektrifizierung plus Rätesystem"? Eine Frage der Lesart.
Der Widerpart der technokratischen Unvernunft wäre die Vernunft
in radikaldemokratischer Form? Die reale Dialektik gab soviel nicht
her.
*
* *
Radikaldemokratie?
In Mitteleuropa dreißig Jahre Krieg. 1620-50 wirtschaftlich schlimme
Zeiten auch in England, 40-50 die schlimmsten. Christopher Hill
öffnete mir die Augen für jene Zeiten. Und für Hill war wiederum
Gessen kein Unbekannter. Die Wälder in Sussex und Kent waren verschwunden,
schon seit 100 Jahren gab es Gesetze gegen Raubbau in der Holzkultur.
Der Kohleexport aus Newcastle war in diesem Zeitraum von 33 auf
529 Kilotonnen jährlich angestiegen. Technisch - von Militärtechnik
einmal abgesehen - war das die 'Pumpenzeit'. Pumpen erscheinen heute
als 'Leitfossil' jener Epoche, im Aufschwung der Produktivkräfte,
von dem Gessen schrieb. Pumpen fanden Eingang im Bergwerk, in der
Wasserversorgung, in der Landgewinnung auf moorigem Grund. Vor 1640
und nach 1660 herrschte strikte Zensur. In diesem Intervall von
zwanzig Jahren gab es für 'Radikale' soviel Rede- und Schreibfreiheit,
wie kaum jemals. Druckerzeugnisse aus ihren Federn überschwemmten
den Markt. Verkaufschancen für Exzentrisches mögen Drucker wie Calvert
(und Overton?) bestimmt haben, beträchtliche Risiken für sich und
die Autoren auf sich zu nehmen.
Die
Radikalen der englischen Revolution band keine straffe Organisation,
sie bildeten keine Partei, und nur über eine kurze Zeitspanne schien
die Welt, das heißt die Ordnung auf der britischen Insel, ihrethalben
Kopf zu stehen. Cromwell und Fairfax spielten noch längst nicht
die späteren Führerrollen, die 'New Model Army' - die Armee neuen
Stils - war, als sie den Bürgerkrieg zu Ende brachte, nichts anderes
als eine 'Wandertruppe freier Menschen'. Sie bot ihren freiwilligen
Soldaten zugleich musterhafte Chancen für soziale Mobilität und
repräsentierte einen besseren Querschnitt durch die englische Gesellschaft
als das Unterhaus von heute. Sie war reich an Laien- und Wanderpredigern,
an Ideen der 'Mechaniker", der Wiedertäufer, Fundamentalisten, der
Hermetiker und Alchimisten. Ideen gegen Regierung und Staatskirche,
gegen Obrigkeitshörige und Universitätsgelehrte. Giordano Bruno
war vor 50 Jahren in England gereist, jetzt kam Comenius zu Besuch.
Die 'Army' war das Zündholz am Pulverfaß. Im März 1647 wurden Soldatenräte,
'Agitators', gewählt und der Armeeleitung blieb nichts anderes übrig,
als sich zu fügen. In atemberaubendem Tempo wurden demokratische
Ideen verbreitet, wurde geschrieben und in eigenen Druckereien gedruckt.
Die Gemeinen, die 'rank and file men', zeigten, wie Selbstorganisation
funktionieren kann. Einer von ihnen war Richard Overton. Sein Pamphlet
'Mans Mortallitie' - 'Des Menschen Sterblichkeit' -, ein
Aufruf zu - dabei nicht minder christlicher - Diesseitigkeit, beweist
nebenbei die Lebendigkeit epikuräisch-skeptischer Überlieferung,
eh dieser 1647 mit Pierre Gassendis Übersetzung die akademischen
Weihen zuteil wurden.
Die
revolutionären demokratischen Fortschritte überforderten viele.
1649 hatte die Gegenseite genügend Kraft, waren die eigenen Reihen
unterschiedlicher Auffassung, befanden sich die 'Agitators' in geschwächter
Position. Als die radikalen Regimenter meuterten, konnten Cromwell
& Fairfax im Mai in Burford sie erfolgreich zur Unterwerfung zwingen.
Die Konservativen und Besitzenden gaben diesen Führern ihre Unterstützung.
Damit kam das Ende der Demokratie in der Armee, und auch das Ende
der 'Gleichmacher', der 'Levellers', zu denen Overton zählte. In
einer der Quellen Hill's heißt es bereits 1664: "Die revolutionären
Dekaden gestatteten dem Strumpfweber, Schuster, Müller, Maurer,
Zimmermann, Ziegelbrenner, Büchsenmacher, Träger und Haushälter,
über Physik und Astrologie zu schreiben und zu lehren" Radikale
wie Winstanley wollten Wissenschaft, Philosophie, Politik von einem
gewählten Laien in jeder Gemeinde gelehrt wissen, diesen Lehrern
sollte eine zentrale Auskunftsstelle zur Verfügung stehen. Ob das
gegangen wäre? Ob der allmähliche Rückzug aus der allgemeinen Öffentlichkeit
aufzuhalten gewesen wäre? Es wurde nie probiert. In der Folge der
Revolution dominierten in den parlamentarischen Grafschaftsausschüssen
die 'neuen berufsständischen Gruppen', die Rechtsanwälte, Ärzte
und Chirurgen, die Apotheker und Lehrer. Nach und nach wurde Wissenschaft
in ihren Fachsprachen nicht zugänglicher als die lateinische Bibel
vordem. Hill meinte, die Radikalen hätten vermutlich gefragt: "Wo
bleibt da der Unterschied (zum alten Regime)?". Das
ist die Frage, die Boris Gessen bewegen mußte: Wo blieb der Unterschied,
wenn, wie Lenin meinte, an der Orientierung der Wissenschaft sehr
wenig zu ändern war?
War
Isaac Newton, wie Gessen schrieb, "wie Locke der typische Sohn
des Klassenkompromisses von 1681"? Er war - bis er so etwas
wie Minister wurde - krank vor Sehnsucht nach Macht und Anerkennung
durch seinesgleichen, unbesorgt um die 'Öffentlichkeit' seiner wissenschaftlichen
Arbeit. Ein Vorwurf ist ihm daraus nicht zu machen, ein Winstanley
war er nicht. Über seine inopportune theologische Dissidenz, um
die sein Denken kreiste, schwieg er sich zeitlebens aus. Um so deutlicher
hätte er in der Projektion des Revolutionärs von 1917 als 'Auslaufmodell'
erscheinen können: verjährt inzwischen in der Handhabung des Nebeneinander
von Fachsprache, allgemeiner Öffentlichkeit und privater Metaphysik.
Sehr im Unterschied zu Overton?
Gessen
beschwor die 'Einheit' vielfältigen Wissens und vielfältiger Darstellung,
eben jene Leistung der axiomatischen 'Principia'. Einheit im Rückblick
und im Über-Blick - eine Eigentümlichkeit von Wissenschaft? Ein
Streben jedenfalls, das zu Gessens Zeit den politischen Kräften
seiner Umgebung unübersehbar eignete. Anthropologen (Pierre
Clastres) haben berichtet, wie 'Gesellschaften ohne Staat' die vereinheitlichenden
Projektionen fürchten und eine mythische, Gesellschaft bestimmende
Natur unablässig sich teilen lassen. Betreiben diese Menschen eine
Art 'Antiwissenschaft'? Ihre Furcht scheint heute, in Zeiten der
Trennung der wissenschaftlichen von der allgemeinen Öffentlichkeit,
vergessen. Einheit in der Physik wird kaum mehr als Gefahr gesehen.
(Die Gefahren heute sind offenbar andere (welche?): "Ein mutiger
Schritt zur großen Einheit" titelte Die Zeit zum beruflichen
Erfolg der Nobelphysiker von 1979) .
Auch
oder gerade weil mit Newton der Rückzug in die Fachöffentlichkeiten
an Impuls gewann, wirkten seine physikalischen Grundvorstellungen
kaum weniger im allgemeinen und politischen Denken als die älteren,
die neue Trennung noch nicht intendierenden Lehren. Die 'Principia'
von 1686 nahmen Einfluß, weil man sie mit dem Konzept der über die
Distanz wirkenden Himmelskräfte verband. Eine politische Differenz
zeichnet sich ab. Overton war kein 'Physiker', beschäftigte sich
nicht mit Himmelskräften, aber in der politischen Gegenüberstellung,
über 40 ins Land gegangene Jahre hinweg, war er der Vertreter einer
Theorie ohne 'Fernwirkung':
"Meinen
Nachbarn interessiert, wiesehr ich dem Zusammenleben nütze und
nicht, in welchem Maß ich ein Sünder bin"
Der
Materialist und Mortalist schrieb eine Absage an theokratische oder
doktrinär ideologische Vorstellungen von der politischen Ordnung.
Hatte nicht der Gott Overtons besseres zu tun, als Sündenregister
zu führen und die irdischen Dinge zu lenken? Hatte der junge Marx
nicht eine ähnliche Absage im Sinn, als er jene These zur Feuerbach-Lektüre
niederschrieb:
"Alles
gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien,
welche die Theorie zum Mystizism veranlassen, finden ihre rationelle
Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser
Praxis"
Was
wäre aus Boris Gessen geworden, wenn die den Lehrer Marx verherrlichende
Umgebung sich diesen Leitsatz zu Herzen genommen hätte? Suchte
Gessen nicht in den und für die Wissenschaften jenen Begriff der
Praxis und scheiterte in einer mörderischen Auseinandersetzung um
'Produktivkraftentwicklung' und zentralistische Macht an einer Aufgabe,
die nach wie vor zur Lösung drängt? Ich bin nicht sicher, ob sich
das so ohne weiteres sagen läßt. Aber daß er diesen Richard
Overton zitierte, der, wie es scheint, Ideologien nicht über die
Menschen stellen wollte und seine Ansicht 'materialistisch', mit
dem In-Eins-Gehen von Form und Materie, zu begründen schien, gibt
Gessens Arbeit einen Sinn, der zu seinem Leben passt.
Betzdorf,
September 1980 / Dezember 1998
Literatur:
Christopher
Hill, The World Turned Upside Down, Penguin Books 1972/1975
|